Die Sternenfänger – Weihnachtsgeschichte für Gross und Klein

Einst, vor nicht allzu langer Zeit, in einem fernen Land, fiel am Abend vor Weihnachten in der ganzen Stadt der Strom aus. Alle Schaufenster, Strassenlaternen, Wohnungen und Häuser blieben dunkel. Es war so finster, dass man nicht einmal bis zu den eigenen Füssen runtersah. Die Leute nahmen es gelassen hin, denn es kam in letzter Zeit häufig vor und niemand war sonderlich überrascht von der Dunkelheit.

Elif stand mit ihrer Mutter am Fenster und blickte hinaus ins dunkle Nichts. Wo sonst die Stadt wie ein Meer von Lichtern glitzerte, war heute eine riesige schwarze Fläche. Einzig die Sterne leuchteten am Himmel. Sie flackerten und funkelten an diesem Abend besonders kräftig, fast als ob sie den Menschen die Hand reichen und etwas Licht ins Dunkle bringen wollten. Auch der Mond war fast voll und hing wie eine übergrosse Strassenlaterne am Himmel.

«Könnten wir das Licht von den Sternen zu uns holen?», fragte Elif nachdenklich. «Morgen ist doch Weihnachten. Anstelle eines silbernen Sternes, könnten wir unseren Baum mit einem echten Stern beleuchten. Dann bräuchten wir keinen Strom mehr und hätten immer unser eigenes Licht». Doch ihre Mutter hörte die Frage nicht. Sie suchte im Wohnzimmer bereits nach Kerzen, mit denen sie Helligkeit in die Wohnung bringen wollte.

«Ich hole mir einen Stern», murmelte Elif entschlossen. Sie zog sich warm an, öffnete die Haustüre und rief ihrer Mutter zu:

«Ich bin drüben bei Anton!» und weg war sie, bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte.

Dann klopfte sie nebenan bei Anton an die Tür und flüsterte: «Komm, du musst mir helfen. Wir müssen einen Stern einfangen, damit er unsere ganze Wohnung beleuchtet und wir nie mehr künstliches Licht brauchen!» Anton sah Elif etwas verdutzt und unentschlossen an. Dann zuckte er mit den Schultern, nahm Jacke und Mütze vom Hacken und rief über die Schulter: «Ich bin bei Elif!» Peng. Die Türe war zu und die beiden Kinder rannten die Treppe runter nach draussen.

Sie zogen los und kamen bald an einen grossen Teich im Stadtpark. Heute war niemand hier, alles war dunkel und der Teich spiegelglatt. Es war so finster, dass sich der ganze Sternenhimmel auf der ruhigen Wasseroberfläche des Teiches spiegelte.

«Anton, schau! Wir haben die Sterne gefunden!», rief Elif, «Wir müssen sie nur aus dem Wasser fischen!».

Eifrig nahmen die beiden Kinder einen Ast zur Hand, mit dem sie einen Stern aus dem Wasser ziehen wollten. Doch kaum platschte das Holz in den Teich, begannen die Sterne zu tanzen und zu hüpfen. Da merkten die Kinder, dass dort im Wasser gar keine echten Sterne schwammen, sondern sich das Spiegelbild all jener Sterne, die weit oben am Himmel schwebten. Enttäuscht gingen sie weiter, beide in Gedanken vertieft.

«Ich habe eine Idee!», verkündete Anton nach einer Weile. «Wir könnten in die Sternwarte gehen. Ich war kürzlich dort und habe die Sterne ganz nah gesehen. Vielleicht können wir dort einen Stern vom Himmel pflücken!»

Elif war begeistert. «Nichts wie hin!». Dort angekommen schlichen sie sich zwischen den Besucherinnen und Besuchern hindurch in den Raum mit dem grossen Fernrohr.

«…die nächsten Sterne sind 4,34 Lichtjahre von uns entfernt», erklärte soeben die Astrophysikerin. «Einer ist sogar 3000 Lichtjahre entfernt. Das kann man in Kilometern gar nicht ausdrücken». 

Elif und Anton schauten sich an.

«Hast du das gehört?», raunte Anton.

«Ja», knirschte Elif und folgerte: «Wie es aussieht, geht auch dieser Plan nicht auf. Die Sterne sind viel zu weit weg von hier!».

Elif stampfte mit den Füssen auf den Boden. Sie war wütend. Warum war das Leben nur so kompliziert! Sterne gab es doch wie Sand am Meer. Warum sollte man sie nicht sammeln können wie Muscheln! Enttäuscht machten sich Elif und Anton auf den Heimweg. Ihr Plan war nicht aufgegangen und sie waren wütend und traurig darüber, dass Sterne unerreichbar von den Menschen, nur als funkelnde Welten existierten.

Das hell erleuchtete Fenster

«Nanu, was ist denn das?», rief Anton plötzlich. Elif blieb stehen, hob den Kopf und blickte in die Richtung, in die Anton zeigte. Dort, inmitten der lichterlosen Altstadt, war ein einzelnes Haus hell erleuchtet. «Lass uns hingehen», sagte Elif und hoffte, dass die Person, die in diesem Haus wohnte, vielleicht eine Lösung für sie bereit hatte. Und so marschierten Elif und Anton auf das hell erleuchtete Haus zu. Sie blickten durch das Fenster und sahen, dass eine alte Frau mit ihren zwei Katzen auf dem Sofa sass und häkelte.

Die Frau hob den Kopf als sie die zwei jungen Gesichter am Fenster erblickte und winkte die Kinder zu sich herein.

«Da seid ihr ja!», lächelte sie und es kam Elif und Anton fast vor, als hätte die Frau sie erwartet. «Ich habe gesehen, dass ihr die Sterne aus dem Teich fischen und vom Himmel pflücken wolltet».

Zerknirscht sagte Elif: «Ich hätte so gerne einen echten Stern bei mir zu Hause, der unser Wohnzimmer beleuchtet. Schliesslich ist doch morgen Weihnachten!».

«Ihr braucht keinen Stern», erwiderte die Alte. «Ihr SEID die Sterne. Ihr tragt sie in euch, in euren Herzen».

Elif und Anton schauten sich an. Ob die Frau wohl richtig im Kopf war?

«Nein, ich bin nicht verrückt», fuhr die Frau fort, als hätte sie die Gedanken von Elif und Anton erraten.

«Ihr SEID Sterne. Ihr tragt sie im Herzen. Bringt sie zum Leuchten».

«Und wie geht das?», fragte Anton.

«Indem ihr andere Menschen glücklich macht», antwortete die Frau.

«Aber wenn ich andere glücklich mache, dann sind die zwar glücklich, aber ich nicht unbedingt», fand Elif und dachte dabei an ihre Streitereien mit der Mutter, wenn es darum ging, in der Küche oder im Haushalt zu helfen. Solche Dinge erledigte Elif nur widerwillig und nur ihrer Mutter zuliebe.

«Denkt nicht an die Haushaltspflichten», sagte die Frau. Wieder hatte sie Elifs Gedanken erraten. «Hausarbeiten gehören halt einfach mit dazu und dienen dem Zusammenleben. Das macht niemand gerne. Nein, was ich meine, geht viel tiefer. Du musst die Menschen tief in ihrem Herz glücklich machen. Dann wirst du merken, wie warm dein eigenes Herz wird und wie leuchtend deine Augen. Wenn du jemanden tief berührst, mit einem Wort oder einer Tat, dann wirst du in seinen Augen deinen eigenen leuchtenden Stern spiegeln sehen. Bringt andere zum Leuchten, dann werdet ihr selbst wie ein Stern glänzen und sehr glücklich sein. Und nun geht nach Hause».

Die alte Frau wendete sich wieder ihrer Häkelarbeit zu. Die Katzen schnurrten sanft und friedlich.

Auf dem Heimweg

Anton und Elif verliessen schweigend das Haus. Beide hingen den Worten der alten Frau nach. Als sie von der Strasse her nochmals zurückblickten, war das Fenster dunkel. Genau wie alle anderen auch. Hatten sie das Ganze nur geträumt?

Doch nein, als sie ihre Hände in die Jackentaschen graben wollten, bemerkten sie, dass diese prall gefüllt waren mit liebevoll verpackten, süss und würzig duftenden Lebkuchensternen. Wann hatte die Frau wohl diese Sterne in ihren Jacken versteckt? Sie schauten sich kurz an, sagten aber nichts. Die Frau hatte recht, es war Zeit, auf den Heimweg zu gehen.

Weit kamen sie allerdings nicht. Vor einem Haus begegneten sie einer Frau, die zwei weinende Kinder tröstete.

«Was ist geschehen?», fragte Elif.

«Unser Hund ist heute gestorben», erzählte die Frau traurig.

Da griff Elif in ihre Tasche und schenkte den beiden Kindern zwei Lebkuchensterne.

«Hier nehmt diese Sterne. Sie bringen euch den Hund zwar nicht zurück, aber sie duften himmlisch und können euch vielleicht aufmuntern!»

Drei Augenpaare strahlten Elif an und sie sah im Glanz der Augen ein kleines Licht funkeln. Sie lächelte und war glücklich, dass sie den Kindern und der Frau eine Freude hatte bereiten können.  

Bald kamen Anton und Elif zum Teich im Stadtpark, wo ein Mann auf einer Parkbank im Dunkeln sass und ins Leere blickte.

«Was ist passiert?», fragte Anton und der Mann antwortete: «Ich vermisse meine Familie. Sie lebt weit weg von hier und ich verbringe Weihnachten zum ersten Mal in meinem Leben allein. Ich fühle mich grad sehr einsam».

Da griff Anton in seine Jackentasche und gab dem Mann einen Lebkuchenstern.

«Hier nimm diesen Stern. Er bringt dich zwar nicht zu deiner Familie, doch er soll dir Weihnachten versüssen». Und wieder strahlte ihnen ein Augenpaar berührt entgegen. Anton sah in den Augen des Mannes eine kleine Träne und ihm wurde sehr warm ums Herz.

So ging es weiter. Auf dem ganzen Heimweg verteilten sie die wundervoll duftenden Lebkuchensterne. Sie machten einen Mann glücklich, der von seinen Schmerzen geplagt wurde, trösteten ein Mädchen, das Liebeskummer hatte, erheiterten eine Frau, die am Strassenrand sass und bettelte. Sogar einer Gruppe Bauarbeitern versüssten sie die Nachtschicht mit ihren feinen Sternen. Sie schenkten und schenkten, Augen leuchteten und strahlten ihnen entgegen und ihre Herzen wurden wärmer und wärmer.

Einen Stern wollte sich Elif aufsparen und später ihrer Mutter schenken. Anton wollte zwei Sterne für seine beiden Brüder aufheben, die mit einer Grippe im Bett lagen. 

Glücklich erreichten Elif und Anton ihr Zuhause. Vor der Haustüre umarmten sie sich zum Abschied und Elif sagte: «Du bist mein allerbester Freund. Mit dir macht das Leben richtig Spass! Ich wünsche mir, dass das immer so bleibt». Und wieder war da ein Leuchten. Diesmal in den Augen von Anton. Ihre Worte hatten ihn berührt und Elif sah, wie seine Augen sanft aufblitzten wie ein funkelnder Stern.

Noch nie war Elif so glücklich wie in jener dunklen Nacht, als die Stadt ohne Licht blieb. Sie konnte es kaum erwarten, dass der Strom wieder anging und sie zusammen mit ihrer Mutter backen konnte. Es sollten Lebkuchensterne werden, die sie all jenen Menschen verschenken wollte, die traurig, einsam oder unglücklich waren. Beim Gedanken daran wurde ihr warm ums Herz und ihre Augen funkelten. Sie konnte fühlen, dass ihr Stern in ihrem Herzen leuchtete.

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